Kulturelles Wort
Redaktion: Stephanie Pieper
Rkultur
Sendung am: 06.08.2017
19.05-19.15 Uhr
GEDANKEN ZUR ZEIT
Die Abgehängten
Zur aufgeladenen Debatte über "Soziale Ungerechtigkeit"
Von Claus Leggewie
GEDANKEN
ZUR ZEIT
Sonntags
19.05- 19.15 Uhr
Manuskript und Sprechen: Claus Leggewie
Telefon:
0511 / 988-2321
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- Unkorrigiertes Exemplar -
Abhängen ist ein vieldeutiges Wort. In der Jugendsprache, in der man dazu lieber
chillen sagt, bedeutet es entspannen, faulenzen, herumhängen, nichts tun, zur Ruhe
kommen. Gut abgehangen, weil lange gelagert, geräuchert und sich entfaltend, sind
Genussmittel, die wir gerne verzehren. Nun ist eine neue Verwendung des Wortes in
die politische Sprache eingewandert: das „Abgehängtsein“, ein sozialpolitischer
Kampfbegriff von Populisten für Menschen, welche von den üblichen Verdächtigen -
das sind Eliten, Finanzkapital, die Politik etc. - ins Abseits gestellt und vergessen
worden seien. Und interessanterweise nennen sich die so bezeichneten dann auch
selbst „Abgehängte“.
Aus dieser Vogelperspektive gibt es ein klares Oben (die Eliten) und ein klares
Unten (das Volk), das sich auch räumlich niederschlägt: reiche Boomtowns versus
armes Hinterland, das durch Schrumpfung und Verödung unattraktiv wird. In dem
Zusammenhang wird „Urbanität“ zum Codewort für Arroganz, Kälte und Zynismus.
Abgehängte stehen, um im Bild zu bleiben, herum wie Waggons, die an einer
verlassenen Bahnstation von einem Schnellzug abgekoppelt und vor Jahren dort
stehen gelassen wurden. Das sei das Lebensgefühl vieler Menschen „draußen im
Lande“, lautet die populistische Opfererzählung.
Ohne Frage: Es gibt solche Gebiete. Man entdeckt sie bei Bahnfahrten in Ost-
und Westdeutschland und in vielen Gebieten Europas, wo auf toten Gleisen vor
hohläugigen Backsteinbauten rostige Güterwagen stehen, überwuchert vom Unkraut.
Industriebrachen, in denen offensichtlich seit Langem nichts mehr hergestellt wird,
und ganze Bezirke, in denen sich dergleichen häuft und zu einem Bild allgemeiner
Trostlosigkeit fügt. Wo sich länger „broken Windows“ (zerbrochene Fensterscheiben)
zeigen, hieß einmal eine auf New Yorker Problemviertel bezogene Polizeitheorie, da
wachse soziale Anomie, ein Zustand, den schon die Gründer der Soziologie als
Krebsgeschwür moderner Gesellschaften identifizierten, als Vorstufen zu ihrem
Zerfall und Einfallstor für autoritäre Führergestalten.
Demoskopen und Wahlforscher legen jetzt Karten solcher Zonen über die von
Erfolgen populistischer Mandatsbewerber und entdecken starke Überschneidungen,
aus denen sich eine Erfolgsgeschichte der Art basteln lässt, wonach die Trumps, Le
Pens und Gaulands dort gewinnen, wo Unternehmen dichtgemacht wurden. Sie
kassieren, als politische Unternehmer, an Stelle der einst dominierenden Linken von
den Verlierern der Modernisierung und Globalisierung die Stimmen der - ja: der
Abgehängten.
Aus der Froschperspektive sieht die Sache weit komplizierter aus als in dem
gern gewählten Bild des Aufstands der Peripherie gegen die Metropolen. Drei
Aspekte modifizieren das Bild, wenn man es schärfer stellt: Erstens erklärt sich das
Gros der Wahlerfolge Donald Trumps und anderer Nationalisten überwiegend aus
deren mittelständischer Anhängerschaft, weniger aus der Zustimmung freigesetzter
und verarmter Lohnarbeiter, sondern von Leuten mit relativ hohem Einkommen,
deren Existenzangst andere Anstöße und Ursachen hat. Aber es gibt auch den
besagten, von Didier Eribon in seiner Lebensgeschichte „Rückkehr nach Reims“
beschriebenen Switch ehemaliger „proletarischer“ Arbeitnehmer aus der politischen
Familie der Kommunisten und Sozialisten ins Lager der autoritären Nationalisten.
Das wäre gewissermaßen eine Fortsetzung des Klassenkampfs mit anderen Zielen,
wobei die Zielscheiben jetzt Einwanderer und Flüchtlinge sind, Fremde und Muslime
und andere klassische Sündenböcke, die Einheimische angeblich in einem Prozess
des großen Bevölkerungsaustauschs verdrängen. Der Inhalt der populistischen
Methode ist dann: völkisch-autoritärer Nationalismus.
Dieses Ressentiment spiegelt zweitens weniger ein großflächiges Zentrum-
Peripherie- oder Stadt-Land-Gefälle, es ist vielmehr in beiden Zonen vorhanden, also
mikropolitisch in den Metropolen ebenso anzutreffen wie im Hinterland und in Städten
ebenso intensiv wie auf dem flachen Land. Die sozialökonomische Ungleichheit,
deren Indikatoren in der unscharfen Aggregatgröße von Regierungsbezirken ermittelt
werden, ist sehr viel kleinteiliger, oft liegen Prosperität und Depression nur wenige
hundert Meter auseinander - auch und gerade in Städten, deren
Durchschnittseinkommen und Arbeitsmarktzahlen erst einmal keinen Grund zur
Besorgnis signalisieren. Und in den strukturschwachen Regionen liegen Räume, die
trotz aller Zuwendungen hoffnungslos scheitern, direkt neben solchen, die auch ohne
große Fördertöpfe aufblühen, wo es wieder Kindergärten, Dorfläden und Bürgerbusse
gibt, nicht zuletzt übrigens wegen des Zuzugs von Flüchtlingsfamilien, die solche
benötigen oder betreiben, und eines ehrenamtlichen Engagements, das diese
Willkommen heißt.
Ein drittes Fragezeichen ist an der These vom generellen Stadt-Land-Gefälle
anzubringen. Das Phänomen der Landflucht aus deindustrialisierten, darunter von
der Agrarindustrie verlassenen Räumen ist unbestreitbar, doch es verschärft die
sozialen Ungleichheiten und sozialpolitischen Probleme gerade auch in Städten. Dort
sind die Durchschnittseinkommen in der Regel höher, aber die Kaufkraft oftmals
niedriger. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung fasste eine
Zeitung kürzlich in der Formel zusammen: „Stadtluft mag danach zwar im Geiste frei
machen, aber arm im Geldbeutel.“ Solche Städte werden das neue Land, dorthin
fordern Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten etwa in Nordrhein-Westfalen
Struktur- und Regionalmittel künftig zu lenken.
Das französische Beispiel kann die Hypothese vom Abgehängtsein als Ursache
oder Anlass nationalistischer Erfolge weiter differenzieren. Die Landkarte des
französischen Hexagons belegt auf den ersten Blick die frappierende
Übereinstimmung der Anhängerschaft von Marine Le Pen und des Front National mit
fünf Indikatoren der Ungleichheit: hohe Arbeitslosenquote, hoher Anteil junger Leute
ohne Berufsabschluss, überdurchschnittliche Armutsbevölkerung, eine große Zahl
Alleinerziehende und ausgeprägte lokale Ungleichheit. Das betrifft vornehmlich
Regionen vom Ärmelkanal bis in den Eisass und dann herunter in einen etwa 100
Kilometer breiten Streifen an der Mittelmeerküste und zurück in das Garonne-Tal
zwischen Toulouse und Bordeaux. Le Pens Antagonist Emmanuel Macron hatte
spiegelbildlich in den anderen Regionen die Nase vorn.
Doch existieren Regionen und Zonen, in denen die fünf Indikatoren
ausgeprägter sind, Le Pen aber unterdurchschnittlich abgeschnitten hat. Wo der
Front National also am besten hätte rekrutieren können, obsiegten die anderen
Kandidaten, darunter Jean-Luc Melenchon und seine globalisierungskritische
Bewegung. Während Le Pen in Gemeinden mit weniger als 100 Einwohnern
zwischen 30 und 40 Prozent der Stimmen bekam, sank ihr Anteil im Großraum Paris
auf 5 Prozent; je bedeutender die Wirtschaftskraft und Reputation der Städte ist,
desto höher ist der Anteil der Mitte-Links-Wähler. Dort leben, wohl wahr, die meisten
leitenden Angestellten und andere gut dotierte Berufsgruppen, aber allein die
sozioökonomische Struktur machte den Erfolg Macrons eben nicht aus. Die Botschaft
ist vielmehr: Soziokulturelle Einstellungen sind mindestens ebenso wichtig. In den
großen Städten Frankreichs leben Menschen, die trotz geringem Einkommen und
Bildungsniveau Frankreich offen halten wollen für Kontakte mit Europa und dem Rest
der Welt und für Einwanderung.
Es gibt wohl die „zwei Frankreich“, wie im letzten Wahlkampf immer wieder
behauptet wurde. Aber es ist nicht das linke und das rechte, die Stadt oder das Land,
die Spaltung verläuft zunehmend zwischen einem Flexagon, das sich schließt, und
einem, das offen bleiben will. Die Europa-Karte zu ziehen, war also ein ingeniöser
Schachzug Emmanuel Macrons, und man darf annehmen, dass es kein rein
taktischer war, sondern dass er seiner tiefen Überzeugung entsprungen war und sich
mit den Ambitionen seiner überwiegend jungen Bewegung deckte. Darüber sollte
man in Berlin und Brüssel intensiver nachdenken.
Aus den Erfahrungen in Amerika und Europa kann man allgemeine Lehren
ziehen: Der uralte Stadt-Land-Gegensatz, genauer jetzt: zwischen prosperierenden
Metropolen und ihren Vorstädten, bleibt eine entscheidende Herausforderung der
europäischen Gesellschaft. Sozialräumliche Mikrostudien und stadtplanerische
Überlegungen, möglichst unter früher Einbeziehung der Betroffenen sind jedoch
aussagekräftiger als agglomerierte Zahlen und Projektionen zu Arbeitsmarkt,
Sozialtransfers und demografischen Perspektiven. Die Wut und die oft
menschenfeindlichen Einstellungen der „Abgehängten“ (und damit sollte man diesen
Begriff endgültig verabschieden) werden nur einzudämmen sein erstens durch eine
echte Lösung der Wohnungsfrage, die der brutalen Verdrängung der Menschen mit
geringem und mittlerem Einkommen aus den Städten einen Riegel vorschiebt, und
zweitens durch eine Infrastrukturpolitik, die Leben und Arbeiten auch auf dem flachen
Land wieder attraktiver macht.
Claus Leggewie, 67, ist Politikwissenschaftler und Verfasser der Bücher „Das Ende
der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie“
(2009, mit H. Welzer) und „Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie“ (2011)